Es lohnt sich, genau hinzuschauen
Ab Sonntag zeigt das Museum Morsbroich Fotos und moderne Kunst aus der Privatsammlung Olbricht.
VON JAN STING, Quelle: Leverkusener Anzeiger vom 14.10.2005
Mit dem rothaarigen Mann scheint etwas nicht zu stimmen: Er sitzt mit seiner Flinte in einem Meer aus Scherben. Ein in adretter Steppweste und Baumfällerhemd gekleideter Typ, der auf Tontauben schießt, und so viele Splitter um sich versammelt hat, dass das Dünengras, welches durch den mosaikartigen Schutt stakst, direkt künstlich wirkt. Zum wilden Mann mag das Szenario dennoch nicht reichen, denn zerbrechlich und verletzt wirkt er - und irgendwie irritierend.
"Schießwut", mag man sich denken, und keine rechte Sympathie mit dem Menschen entwickeln. Aber Vorsicht. Seine Geschichte ist schrecklich. Dem harmlosen Hobby ging er nämlich auch am Tag nach, an dem in weiter Entfernung eine Frau vergewaltigt wurde. Aufgrund eines Fotos identifizierte sie ihn. Sein Alibi, das Schießen, wurde nicht akzeptiert. Ein Justizirrtum, der ihn hinter Gitter brachte. "The Innocents" heißt die engagierte Serie der New Yorker Fotografin Taryn Simon, die ab Sonntag, 16. Oktober, in der Ausstellung "Yes, Yes, Yes, Yes - Differenz und Wiederholung in Bildern der Sammlung Olbricht" im Museum Morsbroich zu sehen sind. Kulturdezernentin Helga Roesgen eröffnet die Schau um 12 Uhr.
Simon ist eine unter 20 Künstlern und einem Anonymus, deren Werke Olbricht gleich mehrfach kaufte. Auf den ersten Blick mag die Schau von über 500 Stücken einem Panoptikum gleichen, einem Bauchladen mit Kleiderbügeln und uralten Kinderköpfen, Gipsmasken für anatomische Zwecke. Es sind bekannte Namen der modernen Kunst und Fotografie darunter: Cindy Sherman, die auch als Erfinderin der künstlerischen Fotografie bezeichnet wird, der Kölner Fotograf August Sander, William Eggleston, der trügerisch alltägliche Bilder im Atomforschungszentrum Los Alamos machte, oder Larry Clark, der unter Fotografen als Ikone gilt, und junge Menschen in "Teenage Lust" beim unbefangenen Sex fotografierte - ohne zum Voyeur zu werden.
Mit der Zeit entdeckt der Betrachter Bezüge, sieht, dass Thomas Olbricht nicht willkürlich sammelt, sondern nach einem offenbar ihm zueigenen Schema - oder besser Leitgedanken. Museumsleiter Gerhard Finckh mutmaßt, dass der Essener Arzt und Privatsammler sich intensiv für die individuellen Lebensumstände interessiere und eine "starke Empathie für den Menschen hat." Also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Auch wenn manches gewagt oder zynisch erscheine, so Finckh, werde niemals denunziert. Katharina Bosse zum Beispiel hat bizarre Räume fotografiert, die auf ganz spezielle sexuellen Präferenzen abgestimmt sind. Ein Schulzimmer ist dabei, ein Karussellpferd, Klinisches und sogar ein Campingplatz.
Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass zum Beispiel Slawomir Elsner bei seinen Hochzeitsfotos zwar immer eine anderes Brautpaar zeigt - die Gesellschaft ist indes auf jedem Bild identisch. Auch wer Paul Pfeiffers Strandbilder sieht, mag sich wundern. Tatsache ist: Es fehlt jemand. Marilyn Monroe wurde herausretuschiert. Nur der Bildhintergrund ist jetzt zu sehen. Und der ist auch schön.
"Yes, Yes, Yes, Yes - Differenz und Wiederholung in Bildern der Sammlung Olbricht". Museum Morsbroich bis 15. Januar. Dienstag: 11 bis 21 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 11 bis 17 Uhr. Der Katalog, Edition Braus, kostet 20 Euro.